Fachliches und Perspektiven
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"The Awareness Gap Model – wenn Privileg still bleibt und warum das Folgen hat"
von Shiraz Maysum (CEO & Founder FIFSI e.V.)
Es gehört sich von Anfang an zu erwähnen, dass das hier keine Anklage ist. Das hier ist irgendwas zwischen Appell (auch an mich selbst) und Diskurs (auch mit mir selbst) - weil Verantwortung nicht erst bei der Rolle beginnt, sondern bei der Bereitschaft, sich selbst zu befragen.
Also: Man kann bekanntlich nicht alles wissen. Man kann nicht alles fühlen. Und man kann auch sicherlich nicht alles erlebt haben. Das ist keine Entschuldigung, sondern eine Realität. Aber es ist auch Teil dieser Realität, dass iin ihr laute und stille Privilegien entstehen. An dieser Stelle geht es eher darum das subjektive Erleben in eine objektive Haltung zu transferieren. Wie forme ich die potentiellen lebensweltlichen und emotionalen "blinden Flecken" in Form von Privilegien, in eine diskriminiserungssensible, empathische und fachilich versierte, sowie belastbare Instanz einer helfenden Position?
Jeder Mensch trägt biografisch, sozial und strukturell gewachsene Erfahrungen mit sich, die den Blick auf die Welt formen – und ebenso das, was außerhalb dieses Blickfeldes liegt. Wer nicht selbst von Rassismus betroffen ist, wird vieles, was ihn ausmacht, nicht spüren. Wer keinen Sexismus erlebt, bemerkt oft nicht, wie tief er sich in Alltagskommunikation, Rollenerwartungen und Deutungsmuster einschreibt. Genauso und nicht weniger deutlich und komplex verhält es sich mit den Themen Ableismus, Antisemitismus und LGBTQI+ Feindlichkeit. Wer z.B. nicht in religiöser oder kultureller Hinsicht marginalisiert wird, bleibt unberührt von einem spezifischen Misstrauen, das manche Menschen gegenüber Institutionen entwickeln – nicht weil sie misstrauisch sind, sondern weil sie systematisch enttäuscht wurden. Diese Differenz ist nicht moralisch aufzulösen. Aber sie ist professionell (und für mich auch ethisch) relevant. Denn spätestens dann, wenn ich in einer begleitenden, prägenden, erzieherischen oder beratenden Rolle Verantwortung trage, reicht meine persönliche Unversehrtheit nicht mehr aus, um handlungssicher zu sein.
Die Frage ist nicht: Habe ich das erlebt?
Die Frage ist: Bin ich bereit, es zu verstehen, gerade weil ich es nicht erlebt habe?
Und: Erkenne ich, dass meine eigene Unbetroffenheit nicht neutral ist, sondern eine Position darstellt - mit Perspektive, mit Wirksamkeit, mit nicht direkt zu erfassenden, aber potentiell großen "blinden Flecken"?
Wie gesagt: Das hier ist keine Anklage. Das hier ist der Versuch eine Brücke zu sich selbst und der Lebenswelt anderer zu bauen. Es liegt jedoch in der Wurzel eines solchen Themas, dass dessen Schwere bei dem einen oder anderen auf innerliche Widerstände stößt. Privilegien haben das Potential große Mauern und massive Widerstände im privilegierten MiIlieu aufzubauen...das bringen Privilegien mit sich. Es ist normal seine Privilegien zu verteidigen.
Trotzdem sei diesen Personen gesagt: da wo sich was bewegt (wenn wir z.B. unsere Privilegien hinterfragen), wird es auch mal eng, man eckt an...es tut weh. Ich bin mir jedoch sicher, dass wir alle die Grundintention in uns tragen, dass allen Menschen dieser Erde eine friedliche und selbstbestimmte Lebenswelt zu teil kommen sollte. Eigene Privilegien hin oder her. Ich glaube auch daran, dass es sich lohnt für so eine Welt zu kämpfen und das ich damit nicht alleine bin..aber zurück zum Model, welches ich hier eigentlich versuche kurz und knapp abzureissen...
Also. So lange wir als Privatperson von "-ISMEN" nicht betroffen sind, ist alles schön und gut, aber spätestens in dem Moment, in dem wir mit Menschen arbeiten, die von struktureller Diskriminierung betroffen sind - sei es durch Rassismus, Sexismus, Anitisemitismus oder andere Formen von Ausschluss-, genügt es nicht mehr, einfach nur "nicht zu schaden". Es braucht das Wissen um das, was wirkt - auch wenn es uns selbst nicht betrifft.
Das Awareness Gap Model beschreibt keine Schuldposition, sondern ein strukturelles Spannungsfeld: die Lücke zwischen der Lebensrealität einer nicht betroffenen Fachkraft – und dem Anspruch, Menschen zu begleiten, deren Erfahrungen von struktureller Diskriminierung durchdrungen sind. Diese Lücke entsteht nicht, weil Fachkräfte ignorant wären. Sie entsteht, weil das, was nicht notwendig gewusst werden muss, selten aktiv gelernt wird. Weil dort, wo eigene Betroffenheit fehlt, auch der Leidensdruck fehlt, der Wissen oft antreibt. Weil man sich nicht erklären muss, wenn man der Norm entspricht. Und weil es in vielen Ausbildungskontexten nach wie vor möglich ist, ein professionelles Selbstverständnis auszubilden, das Diskriminierung nur als Sonderthema behandelt – statt als grundlegende Struktur gesellschaftlicher Ungleichheit, die jede Hilfeleistung mit beeinflusst.
Das eigentliche Problem ist nicht das Nichtwissen selbst. Das eigentliche Problem ist, wenn dieses Nichtwissen professionell nicht reflektiert, nicht benannt, nicht bearbeitet wird – und stattdessen in routinierte Normalität übergeht. Wenn in Teamsätze wie „Ich sehe da kein Problem“ oder „Das ist doch gar nicht so gemeint“ fallen, ohne zu hinterfragen, wessen Perspektive hier zur Norm erhoben wird. Wenn Aussagen von Betroffenen übergangen werden, weil sie nicht ins eigene Weltbild passen. Wenn „Neutralität“ zur Ausrede wird, sich nicht positionieren zu müssen – obwohl genau das gefragt wäre. Nicht als moralischer Akt, sondern als fachlicher Standard.
Professionelles Handeln in sozialen und pädagogischen Feldern bedeutet heute, diese Awareness Gap als Teil der eigenen Struktur mitzubedenken – nicht um sich in Unsicherheit zu verlieren, sondern um Klarheit zu gewinnen.
Wer mit Menschen arbeitet, arbeitet mit Geschichte, mit Macht, mit Sprache, mit Verletzbarkeit. Wer marginalisierte Gruppen begleitet, begleitet auch deren gesellschaftliche Lesbarkeit, deren Zuschreibungen, deren Zugehörigkeiten – ob gewollt oder nicht. Wer Eltern berät, berät auch die impliziten Normen, die über sie verhängt werden. Wer mit Gruppen arbeitet, steht immer im Spannungsfeld von Differenz und Zugehörigkeit. Und wer helfen will, ohne Diskriminierung mitzudenken, hilft oft an der Realität vorbei – nicht aus bösem Willen, sondern aus struktureller Verengung.
Dabei geht es wie gesagt nicht darum alles zu wissen. Es geht auch nicht darum Betroffenheit zu imitieren. Es geht darum, den Unterschied zwischen Wissen und Erfahrung ernst zu nehmen – und als Fachkraft den eigenen Auftrag so zu verstehen, dass er diese Differenz professionell bearbeitet. Wer sich diskriminierungssensibel weiterbildet, tut das nicht, weil es ein moralischer Bonus wäre. Sondern weil es zur Grundlage fachlich tragfähiger Beziehungsgestaltung gehört. Wer sich mit strukturellem Rassismus, mit Sexismus, mit Antisemitismus oder mit Ableismus beschäftigt, tut das nicht aus politischer Geste, sondern um überhaupt erkennen zu können, was da ist – aber oft nicht benannt wird.
Wie könnte es mein fachlicher (oder auch persönlicher) Anspruch sein, diese Gewalt, in einer Biographizität mit der ich "arbeite", nicht zu berücksichtigen. "-Ismen" beeinflussen Lebensrealitäten. Dazu muss ich Sie nicht erst selbst erfahren. Das ist so. Es ist wichtig das wenigstens, aber zeitgleich auch spätestens, auf einer fachlichen Ebene zu checken.
Auch Teil der Realität: Die Bereitschaft zur Sensibilisierung ist kein Ausdruck von Überkorrektheit. Sie ist letzlich ein nötger Ausdruck von Professionalität. Denn sie ermöglicht erst die Passung zwischen Hilfeangebot und Lebensrealität. Zwischen Intervention und Resonanz. Zwischen Begleitung und Vertrauen. Zwischen Prozess und Effizienz. Zwischen Privileg und Betroffenheit.
Wer sich in seiner eigenen Rolle bewusst ist, arbeitet effizienter, klarer und wirksamer. Für sich, für den "Adressaten der Hilfe", für ein System, für die Profession. Wer verstanden hat, dass seine eigene Nichtbetroffenheit eine spezifische Position im professionellen Gefüge darstellt, kann genauer justieren. Kann besser zuhören. Kann gezielter intervenieren. Und wird häufiger als verlässliches Gegenüber wahrgenommen – gerade von Menschen, die gelernt haben, Institutionen evtl. eher zu misstrauen. Authentizität wird, auch auf einer fachlichen Ebene, für einen Klient:in/ Patient:in zuerst auf einem "meschlichen/ ethischen" Fundament aufgebaut. Das Gegenüber begegnet uns in seiner privaten Lebenswelt - wir ihm in unserer abstrakten Position der Profession.
Gute Hilfe heißt nicht: Ich mache alles richtig. Gute Hilfe heißt: Ich habe verstanden, wo ich lernen muss – weil ich nicht betroffen bin. Und ich habe verstanden, dass diese Bereitschaft das Vertrauen schafft, das für jede Veränderung notwendig ist.
Niemand muss alles können. Niemand muss alles verstehen. Aber ich bin davon überzeugt: jede Person, die abstrakt Verantwortung für andere trägt, sollte bereit sein, sich mit den Realitäten auseinanderzusetzen, die sie selbst nicht kennt – gerade dann. Die eigene Unbetroffenheit ist nicht das Problem. Das Problem entsteht, wenn sie still bleibt. Wenn sie als Norm gesetzt wird. Wenn sie nicht reflektiert wird – und so ungewollt zur Reproduktion beiträgt. Das Awareness Gap Model ist kein Urteil über Individuen. Es ist ein Begriff für eine Leerstelle, die sich nur dann schließen lässt, wenn sie erkannt wird. Und es ist eine Einladung, den eigenen Auftrag an sich selbst nicht in der Intention zu verorten, sondern in der Wirkung. Wirklich hilfreich kann nur sein, wer bereit ist zu erkennen, wo das eigene Wissen endet – und wie man es erweitern kann, um die Wirklichkeit anderer besser zu verstehen.
Das Awareness Gap Model benennt also nicht nur eine Lücke – sondern es benennt dessen Tragweite. Eine Lücke im Bewusstsein, im Wissen, in der Wahrnehmung. Eine Lücke, die nicht durch böse Absicht entsteht, sondern durch privilegierte Unberührtheit. Und gleichzeitig eine Lücke, die sich – sobald sie erkannt wird – professionell bearbeiten lässt. „Awareness“ meint in diesem Kontext nicht bloß Achtsamkeit im Sinne wohlmeinender Aufmerksamkeit, sondern ein reflexives, kontextsensibles Verstehen von sozialen Lagen, struktureller Ungleichheit und der eigenen Rolle darin.
Wer mit Menschen arbeitet, kommt an dieser Lücke nicht vorbei. Und wer sie ernst nimmt, kann sie zu einer produktiven Bewegung machen – hin zu mehr Sensibilität, mehr Wirkung und letztlich mehr Menschlichkeit im eignen Handeln.
Und genau dort beginnt sie: in der Bereitschaft, über das eigene Erleben hinaus zu denken.
Shiraz Maysum - Juli 2025
"Autismus-Spektrum-Störung in der
Sozialen Arbeit"
von Anastasia Loladze (klinische Psychologin und Autismus-Expertin)
Autismus-Spektrum-Störung in der sozialen Arbeit: Zugänge schaffen statt nur Türen zu öffnen.
Die Frage, wie man in der sozialen Arbeit Zugänge für Autist*innen schafft, wirkt auf den ersten Blick einfach. Doch schon das Wort „Zugang“ entfaltet bei näherer Betrachtung eine enorme Komplexität – insbesondere im Kontext von Autismus. Wer wirklich Zugang schaffen will, muss mehr tun, als nur symbolisch Türen zu öffnen. Es braucht klare Kommunikation, gegenseitiges Vertrauen, ein feines Gespür für Sinneswahrnehmungen und vor allem eine Beziehung auf Augenhöhe. Ein zentrales Problem liegt häufig im mangelnden Wissen über Autismus. Viele Fachkräfte in sozialen Einrichtungen haben sich bisher kaum mit dem Thema Autismus-Spektrum-Störung (ASS) auseinandergesetzt. Das führt nicht selten zu Missverständnissen, inadäquaten Zuschreibungen und letztlich zu unnötigen Barrieren.
Ein grundlegender Leitsatz im Umgang mit Autismus lautet: Wenn man eine autistische Person kennt, kennt man genau eine autistische Person. Das bedeutet: Die Vielfalt innerhalb des Spektrums ist groß, und individuelle Unterschiede überwiegen. Zwar gibt es gemeinsame Merkmale – etwa sensorische Besonderheiten oder ein Bedürfnis nach Struktur – doch sie zeigen sich in sehr unterschiedlichen Ausprägungen. Soziale Arbeit muss diese Individualität ernst nehmen und sich auf die jeweilige Person einstellen. Ein häufiges Missverständnis entsteht, wenn Autismus bei Erwachsenen als „unsichtbar“ wahrgenommen wird – vor allem bei Menschen mit Asperger-Syndrom oder sogenanntem „hochfunktionalem“ Autismus. Eine Person wirkt organisiert, sprachlich kompetent und reflektiert – und es wird angenommen, dass sie auch in
allen Lebensbereichen selbstständig und stabil sei.
Diese Annahme blendet jedoch wesentliche Aspekte aus: Exekutive Beeinträchtigungen, die bei vielen Autist*innen auftreten, erschweren es beispielsweise, Entscheidungen richtig einzuschätzen oder Handlungsfolgen realistisch zu überblicken. Das hat nichts mit Intelligenz oder Willenskraft zu tun sondern mit neurobiologischen Prozessen. Wird dies nicht erkannt, kann es zu gravierenden Fehlbeurteilungen kommen.
Deshalb ist es essenziell, sich nicht auf oberflächliche Einschätzungen zu verlassen,sondern sich gemeinsam mit der betroffenen Person ein genaues Bild zu machen:
- Wie äußert sich der Autismus im Alltag?
- Welche konkreten Herausforderungen bestehen?
- Wo genau braucht die Person Unterstützung?
Routinen und feste Strukturen sind für viele autistische Menschen ein unverzichtbarer Bestandteil des Alltags. Sie bieten Orientierung, reduzieren Reizüberflutung und ermöglichen eine gewisse Vorhersehbarkeit – ein Aspekt, der für die emotionale Selbstregulation entscheidend sein kann. Unvorhergesehene Veränderungen hingegen – etwa spontane Terminverschiebungen – können eine erhebliche Belastung darstellen. Für die soziale Arbeit bedeutet das: Klare, verlässliche Absprachen sind unerlässlich. Wird ein Termin abgesagt, sollte dies so früh wie möglich kommuniziert werden. Noch besser ist es, wenn im Vorfeld feste Zeitfenster definiert werden, in denen Termine grundsätzlich stattfinden können. Eine solche
planbare Flexibilität ist oft hilfreicher als spontane Offenheit. Gleichzeitig sollte auf eine reizarme Umgebung geachtet werden, in der Gespräche stattfinden. Smalltalk, Doppeldeutigkeiten oder flapsige Bemerkungen wirken für viele Autist*innen nicht verbindend, sondern verwirrend oder unangenehm. Stattdessen kann echtes Interesse – etwa an den Spezialinteressen der Person – eine Brücke sein, um Beziehung aufzubauen.
Die Praxis zeigt: Viele Herausforderungen in der sozialen Teilhabe autistischer Menschen sind weniger im Autismus selbst begründet, sondern in der mangelnden Anpassungsfähigkeit gesellschaftlicher und institutioneller Strukturen. Beispielsweise sind viele bürokratische Prozesse unnötig kompliziert, Formulare unlogisch aufgebaut, oder Beratungsgespräche zu wenig transparent. Auch digitalisierte Angebote – etwa Online-Kommunikation oder flexible Zeitmodelle – werden zu selten genutzt, obwohl sie gerade für neurodivergente Menschen enorme Erleichterungen darstellen könnten. Darüber hinaus sollte Kommunikation möglichst schriftlich, klar und strukturiert gestaltet sein. Für viele Autist*innen ist etwa ein kurzer, geplanter Text über das Handy angenehmer als ein spontaner Anruf. Solche scheinbar kleinen Anpassungen können im Alltag einen großen Unterschied machen.
Autistische Menschen benötigen keine Sonderbehandlung – aber sie brauchen individuelle und ernst gemeinte Anpassung. Soziale Arbeit kann hier Brücken bauen, wenn sie bereit ist, zuzuhören, zu hinterfragen und sich von starren Normen zu lösen. Wer mit autistischen Menschen arbeitet, sollte nicht zuerst nach „Methoden“ suchen, sondern nach Beziehung. Denn nur in einer vertrauensvollen, verlässlichen Zusammenarbeit können Barrieren abgebaut und echte Zugänge geschaffen werden – im besten Sinne einer inklusiven und respektvollen sozialen Arbeit.
Anastasia Loladze - Juli 2025
"Rassismus, rechte Sprache und Macht - das Schweigen im System"
von Shiraz Maysum (CEO & Founder FIFSI e.V.)
In der Sozialen Arbeit begegnet uns rechte Gewalt selten im klassischen Gewand: nicht immer als Skinhead mit Springerstiefeln oder durch offensichtliche Drohungen. Viel häufiger tritt sie in Gestalt alltäglicher Sprache, in Andeutungen, in Strukturen auf – eingebettet in professionelles Auftreten, hinterlegt mit institutioneller Autorität. Es ist die Sprache der feinen Unterschiede, der Codierungen und Verschiebungen, die rassistische und rechte Weltbilder reproduziert, ohne dass das Umfeld aufhorcht. Und genau das ist gefährlich.
Soziale Arbeit versteht sich als Menschenrechtsprofession. Sie ist verpflichtet, parteilich an der Seite derjenigen zu stehen, die gesellschaftlich benachteiligt werden. Doch diese Haltung bleibt oft auf der Folie von Projektanträgen oder Leitbildern stehen. In der Praxis begegnen wir nicht selten einem tief sitzenden Schweigen – einem Schweigen, das sich breitmacht, wenn rassistische Bemerkungen fallen, wenn Kolleginnen sich abwertend über Klientinnen äußern oder wenn systemische Diskriminierung nicht thematisiert werden darf, weil es „zu politisch“ sei. Es ist das eine auf eine "Demo gegen Rechts zu gehen" (sehr gut wenn man es tut), aber vielleicht etwas anderes in anderen Räumen immer schnell und klar Position zu beziehen. Rechte Sprache hat viele Gesichter. Sie spricht von „denen, die nicht hierher gehören“. Sie äußert „Sorge um unsere Werte“. Sie betont „Kulturunterschiede“, wenn sie Abwertung meint. Und sie wird in sozialen Einrichtungen nicht selten zur Normalität, wenn sie nicht benannt wird. Die Angst, in Teams anzuecken, sich unbeliebt zu machen oder als „ideologisch“ zu gelten, führt dazu, dass viele Fachkräfte schweigen – selbst dann, wenn sie eigentlich klar sehen, was geschieht.
Dieses Schweigen schützt allerdings nicht die Neutralität, sondern die Machtverhältnisse. Es stabilisiert eine Struktur, in der Sprache gezielt eingesetzt wird, um Zugehörigkeit zu definieren – und Ausgrenzung zu rechtfertigen. Wer sich rassistisch äußert, spürt oft keine Konsequenzen. Wer dagegen aufsteht, riskiert Isolation oder wird zur Störung erklärt. Genau hier liegt das Problem: Die Profession schützt nicht immer die, die Haltung zeigen, sondern oft die, die sich hinter Professionalität verstecken, während sie diskriminieren. Auch Einrichtungen selbst tragen Verantwortung. Wenn Leitungskräfte keine klare Haltung zeigen, wenn es keine Sprachregelungen oder Schutzmechanismen gibt, wenn die Sensibilisierung für Rassismus und rechte Ideologien ausbleibt, dann entsteht ein Klima der Beliebigkeit. Und in diesem Klima gedeiht rechte Sprache – gerade weil sie nicht als solche benannt wird. Es reicht eben nicht, nicht rechts zu sein. Es braucht ein aktives Gegenhalten. Und das fängt bei Sprache an.
Ein Beispiel: Wenn in einer Aktennotiz steht, eine Familie sei „auffällig migrantisch“, ist das keine neutrale Beschreibung, sondern eine Markierung, die rassistische Strukturen verstärkt. Wenn über „Integrationsunwillige“ gesprochen wird, ohne die strukturellen Hürden zu reflektieren, wird ein Narrativ bedient, das rechte Diskurse anschlussfähig macht. Und wenn Fachkräfte mit sichtbarem Migrationshintergrund in Teams ständig ihre Zugehörigkeit erklären müssen, reproduzieren wir ein System, das ihnen nie wirklich einen Platz zugesteht.
Die Soziale Arbeit hat die Pflicht – und die Möglichkeit –, Räume zu schaffen, in denen Diskriminierung nicht nur erkannt, sondern auch benannt wird. Das bedeutet nicht, jedes Gespräch in einen politischen Diskurs zu verwandeln. Es bedeutet, sensibel zu sein. Verantwortung zu übernehmen. Und solidarisch zu handeln – gerade dann, wenn es unbequem wird. Nicht jede Fachkraft ist in ihrem Privatleben von Rassismus betroffen, sollte sich aber spätestens wenn sie mit Menschen arbeitet, damit beschäfigen. Rassismus gehört bei vielen Menschen zum Alltag dazu, es beeinflusst ihre Lebenswelt. Dafür brauche ich als (nicht betroffene) Fachkraft ein Verstädnis und muss entsprechend sensibilisiert sein. Das gilt im Übrigen für alle Formen von Diskriminierung - also auch Antisemitismus, Sexismus, Ableismus oder Diskriminierung von Personen aus der LGBTQ+ Community.
Wer Haltung zeigt, braucht neben Wissen und Sensibilität, vor allem auch Rückhalt. Träger, Kollegen und Leitungen sind gefordert, diesen Rückhalt zu geben – durch Fortbildungen, durch klare Positionierungen, durch Schutzkonzepte auch für Fachkräfte. Denn auch sie werden zur Zielscheibe rechter Gewalt – durch ihre Herkunft, aber auch ihre politische Positionierung oder ihre Arbeit mit marginalisierten Gruppen. Dieses Risiko wird in der Debatte oft ausgeblendet. Es gehört aber ins Zentrum.
Schweigen ist keine Option. Nicht für eine Profession, die den Anspruch hat, an der Seite der Schwächeren zu stehen. Und nicht für Menschen, die in ihrer Arbeit täglich mit der Realität von Ausgrenzung, Rassismus und rechter Ideologie konfrontiert sind – manchmal subtil, manchmal direkt. Wenn wir nicht lernen, auch die leisen Formen rechter Gewalt zu erkennen und zu benennen, machen wir uns mitschuldig. Nicht aus böser Absicht, sondern aus Bequemlichkeit, Angst oder Überforderung. Doch unsere Klientinnen spüren diesen Unterschied. Und viele Kolleginnen auch.
Deshalb braucht es Mut – und Räume wie diesen, in denen gesprochen, geschrieben und gestritten werden darf. Fachlich, politisch, mit Haltung und Respekt.
Shiraz Maysum - Mai 2025